Das goldene Kind

In der geschwärzten Dunkelheit und in der Helle des Lichts

In der geschwärzten Dunkelheit und in der Helle des Lichts sehen Dinge anders aus. Vor rund 40 Jahren bekam Dora Zandler, damals war sie noch in der Ausbildung als Hebamme, in einer sterilen, hellblauen Kaffeeküche des Mount Sinai Hospitals, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, die Geschichte vom „goldenen Kind” erzählt. Die Geschichte eines neugeborenen Kindes, das direkt nach der Geburt, nach dem Durchschneiden der Nabelschnur, anfing, so golden wie die nach allen Richtungen verströmenden Strahlen eines Heiligenbildes zu leuchten. Das Kreißsaalpersonal musste sich vor Helligkeit die Hand vor Augen legen. Das war dann auch der Moment, in dem dieses Baby geklaut wurde. Es war ein Skandal. Nach außen sagte das ganze Klinikpersonal, die Sonne hätte sie geblendet, da alle Angst hatten, in die Klapsmühle geschickt zu werden.

Am Anfang berichteten aufgeregt die Gazetten aller Länder darüber. Nach zwei Jahren hatten sich alle Wogen geglättet, als ob es den Fall nie gegeben hätte. Die Eltern des goldenen Kindes hatten sich getrennt und später hatten Kindsvater und -mutter am selben Tag, zur selben Uhrzeit, aber an unterschiedlichen Orten Selbstmord begangen, weil sie nie über die Entführung hinweggekommen waren.

Dora Zandler hatte immer gezweifelt, ob es etwas wie das goldene Kind je gegeben hatte. Im Stillen fragte sie sich, ob man sie damals auf den Arm hatte nehmen wollen?

Diese Story hatte sie wieder im Kopf, als sie mit der New Yorker U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit im Morgengrauen in ihr Krankenhaus am Central Park fuhr. Obwohl es schon November war, leuchteten die Blätter der Bäume im Indian Summer goldfarben wie das ausgebreitete Gelbgold, Rotgold, Weißgold auf einem Basar in Dubai. Vielleicht war das der Grund, warum sie an das goldene Kind dachte?

Dora Zandler hatte keine Kinder. Kein Mann hatte sich ernsthaft für sie interessiert. So war sie dazu verurteilt, die letzte Person ihres Stammbaums zu sein, deren Gebärmutter schon früh ausdörrte wie ein vertrockneter Busch ohne Wasser in der Sahara.

Heute war ihre letzte Schicht, bevor sie in Rente gehen sollte.

Der erste Termin, der Kaiserschnitt einer Erstgebärenden, war für 8 Uhr angesetzt. Bestimmt wieder ein Fall, wo die Frau Angst vor der Geburt und dem Ausweiden ihres Unterleibs hatte.

Die zu operierende Hochschwangere war, wie sie den Unterlagen entnahm, Lehrerin, ledig, Kindsvater unauffindbar. Dora Zandler hob missbilligend die Augenbrauen hoch. Den Blick auf das Namensschild
auf dem Schiebebett gerichtet, verglich sie gewissenhaft den Namen mit ihren Unterlagen. Esther Sandstein. Das stimmte also.

Ruhig lag sie mit einem Bauch, der einer Wassermelone glich, auf dem weißen Laken, man hatte sie schon rasiert und bald sollte sie in den OP geschoben werden. Es war noch ein wenig Zeit und die brünette Frau wirkte sehr sympathisch, auch wenn sie keinen Kindsvater angeben konnte. Dora Zandler beschloss, mit ihr ein wenig zu plaudern, zumal sie auch wenig zu tun hatte.

„Na, wie geht es Ihnen?”

„Geht so! Ich bin sehr aufgeregt!”

„Sind Sie denn ohne den Vater des Kindes hier?” Das war zwar augenscheinlich, aber irgendwie musste sie doch ihre Geschichte in Erfahrung bringen.

„Ja, ich habe ihn im Frühjahr in Griechenland kennengelernt. Ich war dort, um das Einkäsen von Ziegenmilch zu lernen. Ich verliebte mich, als ob er einen Knopf bei mir gedrückt hätte und wurde sofort schwanger. Das habe ich aber erst in Amerika festgestellt. Ich selbst bin adoptiert worden. Für mich gab es keine Debatte, ob ich das Kind kriege oder nicht. Er weiß nichts davon. Er hat keinen Computer und kein Telefon. Wenn das alles hier vorbei ist, werde ich zu ihm nach Griechenland zurückkehren. Ich liebe ihn wahnsinnig. Unser Kind wird ein Junge. Ich freu’ mich wie ein Schneekönig!”

„Wie soll er denn heißen?”

„Yves!”

„Schöner Name..!”

„Haben Sie Kinder?”

„Nein, ich bin ganz allein und heute ist mein  letzter Tag im Krankenhaus.”

„Können Sie mir einen Gefallen tun?”

„Was haben Sie denn?” 
Esther Sandstein richtete sich von ihrem Lager auf, nestelte in der Nachttischschublade und zog ein Papier hervor.

„Das ist eine Bevollmächtigung. Wie ich Ihnen sagte, habe ich niemanden hier. Meine Freunde sind alle ausgewandert, meine Familie verstorben, mein Freund lebt weit fort in Griechenland. Bitte unterzeichnen Sie. Im Falle, wenn mir etwas passieren sollte, wären Sie dann der Vormund des Kindes!”

Dora Zandler war still.

„Es wird Ihnen doch nichts passieren. Bei Dr. Rupi sind Sie doch in guten Händen!”

„Es ist nur für den Fall der Fälle!”

„Gut, ich werde das Blatt unterschreiben, aber nur, weil ich weiß und Ihnen zeigen möchte, dass Sie bei Dr. Rupi in guten Händen sind.”

Dora Zandler las das Papier durch und unterzeichnete.

„Danke, das ist so eine Erleichterung für mich!”

Dora Zandler bekam eine Nachricht auf ihren Piepser und sagte:

„Esther, es ist so weit, wir müssen los!”

„Masseltov!”

„Masseltov!”

Im OP bekam Esther eine Spinalanästhesie. Ihr Rücken war sehnig und voller Muskeln. Es war schwer, die richtige Stelle zu treffen. Nachdemdie Spritze keinerlei Wirkung zeigte und Esther ihren Unterleib weiterhin spürte, entschieden
sich die Ärzte aus gegebenem Zeitdruck für die Vollnarkose. Der Anästhesist fragte Esther:

„Wie viele Finger hat meine Hand?” Er hatte nur vier, deshalb stellte er bei jeder OP die gleiche dämliche Frage.

„Vier!”, antwortete Esther ermattet und dämmerte weg.

Der Arzt schnitt das Kind aus dem Bauch. Dora Zandler war begeistert über seine gute Arbeit. Das war der Grund, warum sie doch so einfach Esthers Formular hatte unterschreiben können.

„Ein so süßer Junge, gleich wird sie ihn wiegen dürfen. Der hat doch glatt acht Pfund.”

Dr. Rupi trennte die Nabelschnur durch und plötzlich war der ganze OP in goldenes Licht getaucht. Das Kind leuchtete wie die Sonne. Dora Zandler blieb die Sprache weg, aber sie wusste, ihre Augen durfte sie nicht zumachen. Alle anderen hatten die Augen geschlossen. In der Helle des Lichts erschien ein Engel, groß wie ein Haus, beugte sich über das Kind und sagte mit dunkler Stimme:

„Ich habe was Besseres mit dir vor!”

Er nahm das Kind in seine Hände, größer als Wagenräder und schwebte mit ihm über die Decke des OPs davon. Sternenstaub, Glühwürmchen gleich, rieselte von seinen Flügeln in kleinen gelbgoldenen Flocken in den Kreißsaal und durch die Luft.
Dann herrschte  die normale OP-Beleuchtung mit einem grenzenlosen Durcheinander.

Der Narkosearzt hatte wohl nicht nur vier Finger, sondern auch gestern Abend zu viel getrunken und Esther Sandstein zu viel gespritzt oder diese war zu zart für die Welt. Esther Sandstein lag tot auf der Pritsche. Das Kind war weg. Das Chaos perfekt. Dora Zandler dachte sich: „Bloß nichts vom großen Engel erzählen! Und das an meinem letzten Tag!”

Nachdem die Polizei alle vernommen hatte, wollte Dora Zandler müde und mit allen möglichen Gefühlen bestückt nach Hause gehen. Sie überlegte es sich anders, beschloss in den Park Slope zu gehen. „Was es alles gibt?!” Sie setzte sich auf eine Bank, ihr Herz tat weh. Wie Stiche einer Nähmaschine. „Vielleicht ist mein
Herz zu groß geworden”, schoss es ihr durch den
Kopf, bevor sie die Augen schloss und ihr Herz weit flog.

Es waren alle da: ihre Mutter, ihr Vater, ihre Schwester, ihre drei Brüder, Johann, Bernadette, Oma Lina und Opa Saul. Esther Sandstein empfing
sie – auf sie zulaufend – mit offenen Armen. Ganz 
hinten sah sie das goldene Kind winken.



Die Landschaft ihrer Träume

Die Landschaft ihrer Träume

Meine Frau war sehr krank. Keiner der Ärzte konnte uns sagen, was sie hatte. Jeden Tag schwand sie mehr dahin. Sie hatte kaum noch Appetit und lag in unserem Landhaus im Rosenholzbett, das ich uns zur Hochzeit gezimmert hatte. Die wintergrünen Klappläden waren fast immer geschlossen. Dort lag sie kühl und geschützt vom grellen Sonnenlicht des Südens und wurde jeden Tag bleicher und bleicher. Nur noch die Kontur ihres ebenmäßigen Gesichtes war auf dem weißen Laken zu erkennen. Ihr Haar umschlang dunkel und wild wie die Äste eines Baumes, nach allen Seiten das Kopfkissen.

Ich war traurig, denn es gab wenig, was ich für sie tun konnte.
Sie klagte nicht und sprach nicht mehr. Stumm widmete sie sich ihrem Tagebuch, das sie stetig auf dem Rücken liegend beschrieb und bekritzelte. Ich hatte ihr dafür eine kleine Erfindung gebaut. Zwei Stahlrohre, die an Haken gedübelt fest an der Decke hingen und an deren unterem Ende ein Holztablett befestigt war, in das sie ihr Skizzenbuch einklemmen konnte. Ein Bleistift hing  mit einer gelben Kordel am Brett. Ihr Buch war voll von Ideen und Zeichnungen. Manchmal, wenn sie wieder schlief, setzte ich mich in den blauen Kordsessel neben ihrer linken Betthälfte, nahm ihr Buch, blätterte ihren Kopf durch und nahm die Fährte ihrer Phantasien auf. Immer wieder kam ihr die Idee einer Schneelandschaft, in der alles ruhig und unberührt war. Kein Fußabdruck, keine Pfote, kein Wind sollte diese berühren. „Zeit der Träume“ hießen diese Skizzen. Tag um Tag, Nacht um Nacht beschäftigte sie sich mit ihrer Schneelandschaft.

Ich wollte etwas tun. Mehr als einen Tee kochen und ihr diesen mit ein bisschen Reis und gegartem Hühnchen und Gemüse ans Bett stellen. Der Einfall ist mir wohl gekommen, als ich mit dem Auto nach Rom unterwegs war, um die Kamera aus der Reparatur abzuholen. Schnell bremste ich mit dem grünen Jaguar vor dem Geschäft am Straßenrand, um das Benötigte einzukaufen. Der Ladenbesitzer versprach mir eine weitere Lieferung nachmittags mit dem Lastwagen in unser Landhaus zu schicken. Freudig saß ich im Auto, ungebremst und stürmisch mein Elan, dieses Eine auszuführen. Ich arbeitete gottgleich sechs Tage und sechs Nächte. Am siebten Tag ging ich früh am Morgen in unser Schlafzimmer, um die wintergrünen Klappläden aufzuklappen, die bodentiefen Fenster aufzustoßen, sie sanft aus dem Bett zu heben und zum geöffneten Fenster zu tragen. Ich hatte es geschafft. In unserem Garten gab es keine Pflanze, keinen Busch, keinen Schatten mehr. Der ganze Garten war weiß. Sechs Tage, sechs Nächte hatte ich gebraucht, ihn weißer als weiß zu bekommen. 600.000,03 Liter weiße Farbe und 2102 Borstenpinsel waren für die Ausführung meines Werks nötig gewesen.

Ihr Werk – die Landschaft ihrer Träume.
Ich frage mich heute noch, ob sie es überhaupt gesehen hat, denn ich trug ihren leblosen Körper in unser Rosenholzbett zurück. Ihr Haar umschlang dunkel und wild, wie die Äste eines Baumes, das Kopfkissen. Meine Hände, noch weiß von Farbe, trocken und krümelig, schaukelten wie zwei Boote auf meinem Gesicht, dem Ozean.


Ankalina Dahlem wusste schon als Kind, dass sie Malerin und Schriftstellerin werden wollte. Während ihrer Kindheit malte, zeichnete und schrieb sie immerzu. Durch den Beruf des Vaters befanden sich stets Fotomagazine im Haus. Ihr liebster Fotograf war Helmut Newton. Sie gehörte einer amerikanischen Schulschwimmmannschaft an und fotografierte viel. Mit einer Bewerbungsmappe voller Fotos bewarb sie sich am Pasadena Art Center in Kalifornien. Der damalige Chairman des Fotodepartments war Art Kane. Bis zu seinem Tod waren beide in Freundschaft verbunden. Nach zwei Semestern Studium der Fotografie wechselte Dahlem ins  Fine Art Programm. Da die prächtigsten Gemälde Alter Meister aus Europa kamen, beschloss sie in die alte Welt zurückzukehren. In Frankfurt kam sie in die Städelschule, Klasse Immendorff.  Dort studierte sie ein Jahr, um dann nach Karlsruhe in die Akademie der Bildenden Künste, Fach der Bildhauerei, Klasse Balkenhol zu wechseln. Nachdem sie in zwei Jahren alles gebildhauert hatte, was ihr wichtig erschien, und sie es satt hatte ständig Kommilitonen zu fragen ob sie ihr helfen könnten eine ihrer Skulpturen zu tragen, wechselte sie in das Medium der Malerei, Klasse Gross.  Einfach zu transportierende Postkarten und große einrollbare Papierarbeiten wurden zu ihrer Disziplin.  Zudem war der Globus mit den leichten Formaten einfacher zu bereisen. Hier von trugen ihre Stipendien in Den Haag und Prag Vorteile. Nach Diplomarbeit und Meisterschülerbrief ging es weiter auf Odyssee mit Stift, Papier, Leinwand und einer Schreibmaschine. New York, Tel Aviv und Venedig waren nur einige Arbeitsaufenthalte. Immerhin hatten die Städte ein Meer vor der Tür. Mit einem Stipendium in Paris entdeckte sie die Welt der Hallenschwimmbäder, dann ging es mit einer blauen Serien von großformatigen Leinwänden über Frankfurt nach Berlin. Das war die Stadt, wo sie eigentlich am wenigstens bleiben wollte. Jedoch inspirierte die Nässe und die Kälte sie zu zahlreichen Kurzgeschichten und einem Roman, der im sonnigen Peru spielt. Danach beschließt sie mehr zu reisen. Von Berlin aus scheint diese Unternehmung schwierig zu sein. Deswegen zieht sie nach Frankfurt am Main.  Erst einmal für eine Weile. Hier werden alle Bilder und Zeichnungen, Skulpturen und Manuskripte eingelagert. Begleitet von der Sehnsucht nach Wasser und Träumen arbeitet sie täglich an Bildern und Texten und deren Chiffrierung.

Der  fliegenden Holländer ist ihr bekannt.

salut@ankalina.com